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Wenn Kinder trotzen

Interview mit der Pädagogin Susanne Mierau

Von Andrea Wolf

Mit Trotz zeigen Kinder, dass sie Freiräume brauchen, um selbstständig und selbstbewusst werden zu können. Trotz kann, gut begleitet durch Erwachsene, Kindern Halt geben und sie für das Leben stärken.

Frau Mierau, sie sind Pädagogin und spezialisiert auf die Phase des Kleinkinddaseins. Was fasziniert sie an diesem Alter besonders?

Natürlich hat jedes Alter besonders schöne, aber auch für Eltern anstrengende Phasen. Dennoch ist die Kleinkindzeit eine ganz besondere Zeit, da hier sehr viele Entwicklungsbereiche in sehr kurzer Zeit ausgebaut werden und Kinder durch ihre zunehmenden Kompetenzen immer mehr die Welt erforschen und begreifen. Das impliziert, dass sie auch hadern, Dinge infrage stellen.

Als zertifizierte Familienbegleiterin stehen sie Eltern zur Seite, wenn es etwas holprig läuft. Ist die Kleinkindphase die intensivste Zeit, die Eltern mit ihren Kindern erleben?

Jede Phase des Familienlebens ist durch besondere Themen gekennzeichnet. Der Beginn des Familienlebens ist eine besondere Zeit, weil ein neuer Mensch mit eigenem Temperament in eine bestehende Gemeinschaft kommt. Im ersten Jahr gibt es eine Vielzahl an Veränderungen bei Babys, Eltern und in Bezug auf das Zusammenleben. In der Kleinkindzeit entstehen dann andere Herausforderungen. Das Kind entdeckt die Welt und stößt an persönliche, soziale und materielle Grenzen. Damit muss es sich auseinandersetzen. Das ist für Eltern oft eine Herausforderung. Gerade der Umgang mit den Gefühlen des Kindes, die noch ganz anders Ausdruck finden und elterliche Regulation benötigen. Das ist durchaus eine sehr intensive Zeit. Aber auch nach der Kleinkindzeit stehen viele Herausforderungen an: Vorschulzeit, Schulzeit, das Teenageralter. Jede Phase hat ihre eigenen Besonderheiten und Herausforderungen.

Haben Sie den Eindruck, dass die Zustände von Verunsicherung und Überforderung innerhalb von Familien zunimmt?

Unsere Informationen darüber, was Kinder für ein gesundes Aufwachsen benötigen, ist umfangreicher als je zuvor. Wir wissen heute, dass Kinder respektvoll behandelt werden sollen, dass ihre Gefühle Begleitung brauchen, dass das Eingehen auf ihre Bedürfnisse wichtig ist. All dies ist Voraussetzung dafür, dass sie ein gutes Bild von sich selbst entwickeln um dann sicher und selbstwirksam durchs Leben gehen zu können. Gleichzeitig fällt es vielen Eltern schwer, theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen. Das liegt daran, dass sie selbst häufig eine andere Entwicklungsbiografie haben und auch Vorbilder fehlen. Aber auch, dass die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft es Eltern schwer macht. Wir stecken inmitten einer Care-Krise: Eltern sind mit Erwerbsarbeit und vielen anderen Aufgaben sehr beschäftigt und es fehlt ihnen die Zeit, Kinder angemessen zu begleiten. Gefühle wahrnehmen, aushalten, Alternativen vorschlagen, Kanäle für Wut und Frust schaffen -  das geht nicht mal eben nebenbei.

Immer häufiger kann man von „Tyrannen“ lesen, wenn Kinder beschrieben werden. Ist das Konzept der bedürfnisorientierten Erziehung am Ende?

Unsere gesellschaftlichen Strukturen sind in der Hauptsache auf die Wünsche und Bedürfnisse von Erwachsenen ausgereichtet. Ob in der Stadtplanung oder bei den angebotenen Betreuungszeiten für die Kinder. Individuelle Lösungen für Kinder und Jugendliche sind Wunschdenken. Überhaupt: Kinder und Jugendliche werden oft als nervig und störend wahrgenommen. Sie werden zu gesellschaftlichen Anpassungsleistungen gezwungen, die sie kognitiv keinesfalls umsetzen können. Mit dem Ergebnis, dass sie rebellieren und dann als Tyrannen wahrgenommen und gelabelt werden. Wenn wir unsere Erziehung allerdings so ausrichten und uns fragen, was Kinder eigentlich brauchen, wird sich das dann langfristig auf deren Entwicklung und auf die Gesellschaft an sich positiv auswirken. Selbstwirksamkeit, Empathie und Respekt sind da die Schlüsselfunktionen. Wenn bedürfnisorientiertes Eingehen auf Kinder am Ende sein sollte, sieht es für die Menschheit insgesamt nicht gut aus.

Die Trotzphase im Kleinkindalter ist bei allen Eltern eine gefürchtete Zeit? Warum tut uns die Evolution das an?

Kinder verfolgen ihre Entwicklungsziele. Sie wollen möglichst gut lernen, sich in der Umwelt zurecht zu finden und, sie wollen sich an die Gegebenheiten anpassen. Dafür ist es notwendig, sich mit allem auseinanderzusetzen. Hierfür fehlt uns in unserem modernen Leben allerdings die Zeit. Nehmen sie die klassische Szene am Morgen in vielen Familien: Kleinkinder wollen sich selbst anziehen. Es macht ihnen Freude, alles zu entdecken und zu lernen. Die Erwachsenen haben aber Stress: Das Kind muss in die Kita und man selbst muss pünktlich bei der Arbeit sein. Es bleibt kein Raum, die Kleinen ausprobieren zu lassen. Kurzerhand ziehen Mama oder Papa dem Kind die Schuhe an, worüber der Sprössling wütend wird. Es kommt zum Streit, weil die Interessen weit auseinanderliegen. Trotz kann man das eigentlich nicht nennen. Die Evolution hat eigentlich alles sehr schlau eingerichtet. Kinder haben entwicklungspsychologisch ein großzügiges Zeitfenster, um sich an ihre jeweilige Umgebung anzupassen. Inzwischen haben wir allerdings Bedingungen geschaffen, die das kaum mehr möglich machen.  

Gibt es Kinder, die diese Phase überspringen und muss man sich dann sorgen machen?

Wie Kinder ihre Gefühle ausleben, ist sehr individuell. Wir alle kommen mit verschiedenen Temperamentsdimensionen auf die Welt, die sich in Auseinandersetzung mit der Umwelt zu Persönlichkeitseigentschaften entwickeln. Manche Kinder sind lauter, aktiver, empfindlicher, sensibler und so weiter als andere. Auch die Eltern spielen eine Rolle: erlauben wir mehr Zeit und Raum für Erkundungen und für das Ausprobieren, protestieren die Kinder auch weniger. Generell lässt sich aber sagen, dass die Gehirnentwicklung von Kindern so strukturiert ist, dass in der frühen Kindheit Gefühle ungefilterter sind und dass das ihrem Ausdruck anzumerken ist.

Auch die Pubertät birgt viel Konfliktpotenzial. Ist sie die Trotzphase für Teenies?

Genau wie bei Kleinkindern unangemessen, von „Trotz“ zu sprechen, ist das auch in der Teenagerphase völlig unpassend. Die Teenagerzeit ist dadurch gekennzeichnet, dass Jugendliche versuchen, eigene Wege zu gehen um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Das Gehirn wird in diesem Alter noch einmal stark umgebaut, der Hormonhaushalt verändert sich. Kinder und Jugendliche sollten in jeder Phase ihres Heranwachsens respektvoll behandelt werden. Es ist die Aufgabe von Eltern, die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens zu stecken, aber auch Raum für das gemeinsame Gestalten zu lassen.

Auf allen Ratgeberseiten heißt es, Eltern sollen gelassen aber bestimmt bleiben. Ganz gleich ob Trotzphase oder Pubertät. Das ist eine große Leistung. Vermutlich für beiden Seiten. Wie kommt man wirklich unbeschadet durch diese Zeit?

Kinder und Jugendliche – und eigentlich wir alle – brauchen Nähe und Freiheit, Wurzeln und Flügel. Wir brauchen einen sicheren Hafen, der uns Halt gibt. Beständigkeit und Sicherheit sind hierbei ausschlaggebend. Gleichzeitig brauchen Kinder und Jugendliche aber auch den Mut, diesen sicheren Hafen zu verlassen, um Abenteuern zu erleben. Die Möglichkeit, jederzeit zurückkehren zu können, ist dabei essentiell. Das ist die Herausforderung. Wichtig auf diesem Weg ist es, nachsichtig mit sich selbst zu sein. Sich immer wieder klar zu machen, dass Kinder und Jugendliche keine perfekten Eltern brauchen.

Auch Elternschaft wandelt sich stark. Egal ob in der Konstellation oder in der (zeitlichen) Intensität. Von Regenbogenfamilien, Patchworkhaushalten bis zu den toughen Mamas, die in Vollzeit arbeiten. War früher alles besser?

Wenn wir uns darüber im Klaren sind, mit welchen psychischen Erkrankungen die Erwachsenengeneration kämpft und womit wir generell in der heutigen Zeit hadern, erscheint es absurd zu glauben, früher sei alles besser gewesen. Die Art und Weise, wie Kinder aufwachsen, hat weitreichende Folgen für das Erwachsensein und damit für gesellschaftliche Strukturen. Der Mythos, dass unsere Mütter und Großmüttern weniger gejammert haben, hält sich zäh. Vielmehr war es so, dass sie weniger jammern durften, als dass das heute der Fall ist. Nicht umsonst wurden Schlafmittel als „mother’s little helpers“ beschrieben und von den Rolling Stones genau so besungen. Nicht umsonst wurde Hausfrauenschokolade mit Methylamphetamin angeboten, damit sie leistungsfähiger sind. Seit Jahrzehnten steuern wir auf eine erschöpfende und ungesunde Situation für Familien zu. Dass Familien heute in bunten Konstellationen von Regenbogen- über Einelternfamilien bis Patchwork und noch viel mehr leben, ist eine erfreuliche Bewegung und Entwicklung. Familie als System wird so aus einem starren Ideal gelöst und verspricht auf lange Sicht hoffentlich mehr Raum dafür, entspannt zu leben.

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