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Menschen mit ihren persönlichen Geschichten zum Vaterunser

DAS Gebet

© Nina Nicklas BergmannBernhard Bergmann

Es ist DAS Gebet. Ich habe es stets als eine Art „Urtext“ empfunden, weil es ja auch fast immer in diesen gleichsam beglaubigenden Kontext eingebunden ist: „wie uns Jesus zu beten gelehrt hat“ oder: „wie schon Jesus selbst gebetet hat“. Auch wenn wir es nicht letztgültig wissen, weil auch die Evangelien erst Jahrzehnte nach Christus entstanden sind, ist da für mich doch diese Empfindung: Das ist eines der wenigen gesicherten Originale.

Und dennoch bete ich seit längerem an einer Stelle gegen die anderen Stimmen: Führe uns durch die Versuchung. Ich weiß wohl, dass es den in Versuchung führenden Gott in der Bibel gibt, es ist eines seiner Gesichter. Aber der Gott, den ich in vielen weiteren Geschichten und nicht zuletzt im Antlitz Jesu selbst sehe, ist ein anderer.

Das Vaterunser ist auch das Gebet, welches von den Glocken nach Hause getragen wird, bis ins Wohnzimmer, wenn man am Sonntagvormittag die Fenster geöffnet hat. Oder aber in den Wald, als Einladung zum Mitbeten, hier und jetzt.

Schließlich: Dieses Gebet ist da, wenn man es braucht, man hat es zur Hand – oder, passender: im Kopf und im Herzen. Ich erinnere mich an ein Gewitter bei einer Wanderung in den Bergen; ich war mitten im Gelände, das Gewitter plötzlich da, und zwar über mir. In dieser Situation bleibt nicht viel; glauben, hoffen, vertrauen, abgeben. Und dafür sind das die Worte.

Das Vaterunser neu entdeckt

In den Gottesdiensten während meines Konfirmations-Unterrichts fand ich das Vaterunser öde. Wir mussten es – zusammen mit vielen anderen Liedern und Psalmen auswendig lernen und ich leierte es dann immer nur runter, wenn es am Ende eines Gottesdienstes oder im Konfi-Unterricht dran war.

Viele Jahre später, als ich mit über 30 neu oder überhaupt erstmals zum Glauben fand, habe ich das Vaterunser ebenfalls neu entdeckt. Fast alle Lebenssituationen stecken drin – in seiner Schlichtheit und seiner Einfachheit ist es einfach genial. Immer, wenn ich es im Gottesdienst mit anderen bete, empfinde ich ein besonders starkes Gemeinschaftsgefühl. Dann fühle ich mich verbunden mit den Menschen vor Ort in der Kirche oder auch im digitalen Raum und weiß mich verbunden mit Millionen anderer Christinnen und Christen, die die gleichen Worte beten. Das finde ich immer wieder sehr bewegend.

Und ich habe es auch schon gebetet in Situationen, als ich keine eigenen Worte finden oder formulieren konnte. Am Bett meiner verstorbenen Mutter im November 2022 kamen mir einzelne Zeilen in den Sinn – in der Situation konnte ich nichts anderes denken oder beten. Da habe ich es als Hilfe empfunden, auf diese Worte zurückgreifen zu können.

Was mir das Vaterunser bedeutet

Es gibt wohl Situationen und Erlebnisse, die vergisst man niemals, egal wie lange sie schon zurückliegen. Ich bin im Pfarrhaus aufgewachsen und war langjähriges Kindergottesdienstkind: Jeden Freitag am Ende des Kindergottesdienstes stellten wir uns in einen Kreis, überkreuzten die Arme, nahmen uns an den Händen, wurden ganz ruhig und sprachen mit Blick auf die Kerze in unserer Mitte oder mit geschlossenen Augen gemeinsam das Vaterunser. Es war der zeremonielle Abschluss und so viel mehr: Gemeinschaft spüren, Verbindung zu Gott aufbauen, Ruhe finden, nachdem bis dahin alles so aufregend war, sich von den Worten berühren lassen … all diese Gefühle erlebe ich noch heute, wenn das Vaterunser gesprochen wird. Wie schön, dass wir diese Worte Jesu haben und sprechen dürfen. Es verbindet – unabhängig davon, welcher christlichen Strömung oder Konfession die Betenden angehören. Es schafft in diesen Momenten des gemeinsamen Betens einen Leib, so wie sich Gott uns als große Glaubensgemeinde vorstellt. Das bewegt mich und schenkt mir die Hoffnung, dass wir alle auch über das Beten hinaus zu einem Leib werden können.

Irgendwann habe ich zudem angefangen, das Vaterunser in meine abendliche Gebetsroutine einzubauen. Es war und ist mein ständiger Begleiter; ich spreche es, wenn ich dankbar und wenn ich verzweifelt bin. Durch das Vaterunser schenkt Gott mir Kraft, die vor allem dann spürbar wird, wenn eigene Worte fehlen. Und in meinem Leben gab es so viele Momente, in denen es schwer war, die passenden Worte zu finden. Momente der Angst und der Trauer, weil ich nicht wusste, was auf mich zukommt, weil ich große Sorgen um meine Gesundheit hatte oder weil geliebte Menschen gelitten haben. Und solche Momente wird es auch künftig geben, so viel ist sicher. Aber mindestens genau so sicher ist: „Wenn mein Herz keine Worte finden kann, weiß ich doch wie ich zu dir beten kann.“ (aus dem Song Vater unser von DMMK).

Erinnerungen an meinen Mann

Das Vaterunser war für mich immer ein gemeinschaftlich gesprochenes Gebet. Von meiner Taufe bis ins Erwachsenenalter hat es unser Pfarrer im Gottesdienst gemeinsam laut gebetet. Seine Betonung und sein Rhythmus haben mich stark geprägt. Wenn es jemand anders laut vorspricht, bin ich immer noch ab und an irritiert.

Eine besondere Bedeutung hat es für mich bekommen, als mein Mann im Sterben lag und wir es bei der Aussegnung gesprochen haben. Seitdem höre ich es anders, nehme es deutlicher wahr, vor allem auf Beerdigungen. Es ist jetzt immer auch mit Erinnerungen an meinen Man geknüpft. In der Trauer kann man oft verzweifeln. Ich wusste aber: Gott ist da, Gott ist trotzdem unser.

Zwei persönliche Vaterunser-Erlebnisse

© Medienhaus / C. SommerStephan Krebs, Pfarrer der EKHN

Unterwegs in der Südsee, eine abgelegene Fidschi-Insel. Klein ist sie, lediglich ein Dorf mit etwa 20 Häusern und etwa 100 Menschen gibt es darauf. Erreichbar sind sie nur mit einer mehrstündigen Fährfahrt, einmal in der Woche. Die Vorsitzende des Dorfes weist uns eine Gästehütte zu und lässt durchblicken, dass sie den Besuch des Gottesdienstes am Sonntag erwartet. Lächelnd überreicht sie uns einen langen Wickelrock und ein weißes Hemd, die übliche Sonntagskleidung. Damit elegant ausgestattet, erscheinen wir am Sonntag in der Kirche. Wir werden zwar freundlich aufgenommen und angelächelt, aber die Texte in einer polynesischen Sprache verstehen wir natürlich nicht. Außer einem: dem Vater Unser. So fremd die Worte sind, in ihrem Rhythmus erkenne ich das Vaterunser und ich kann sie auf Deutsch mitsprechen. Das Gebet Jesu löst in diesem Moment ein überwältigendes Gefühl von geistlicher Verbundenheit zwischen den Menschen in den Weiten der Südsee und mir, dem Gast aus dem fernen Hessen-Nassau, aus.

Beerdigung meines Vaters. Ich sitze vorne in der ersten Reihe, wie es die engsten Angehörigen tun. Die Trauer ist stark, so stark, dass sie mir die Stimme verschlägt. Doch das macht nichts. Denn ich höre das Vaterunser vielstimmig hinter mir von den Menschen, die gekommen sind um mitzutrauern. Sie sprechen für mich die vertrauten Worte mit, die mich und sie in diesem Moment tragen.

Dankbar für das Vaterunser

Gott sei Dank gibt es das Vaterunser. Auf dieses Gebet von Jesus kann ich immer wieder zurück kommen.

Als Schülerin lebte ich für ein Jahr in einer Gastfamilie in Paraguay. Dieses südamerikanische Binnenland ist stark katholisch geprägt und so auch meine Gastfamilie damals. Wir gingen immer wieder sonntags in die katholische Messe. Als dort das Vaterunser erklang fühlte ich mich geborgen, obwohl ich anfangs fast kein Wort Spanisch sprach. Doch die Melodie des Vaterunser war in Paraguay dieselbe wie ich sie aus meiner Konfi-Zeit kannte. Später erlebte ich ähnliches in Gottesdiensten in anderen Länder. Das Vaterunser verbindet uns und schenkt Gemeinschaft auch über Sprachbarrieren hinweg.

Später als Theologiestudentin fand ich es faszinierend, welche Räume die verschiedenen Bitten mir eröffnen. Das Vaterunser langsam gebetet oder nur Ausschnittsweise inspiriert mich weiter zu beten. Jede Bitte greift mal mehr, mal weniger meinen Alltag auf und berührt mich 

Und jetzt als Pfarrerin verlasse ich mich immer wieder auf die Worte des Vaterunsers. Denn es passt in himmelhochjauchzenden Zeiten, wie vor dem Traualtar, am Taufbecken und auf Geburtstagsfeiern, oder auch in tränenreichen Zeiten, wie am Krankenbett, in schwierigen Seelsorgegesprächen oder auf dem Friedhof.

Ich bin Gott sehr dankbar für das Vaterunser. Denn es passt eigentlich immer, öffnet mir neue Räume und schenkt Geborgenheit.

Mein täglich‘ Vaterunser…

Ja, ich bete. Täglich. Und damit meine ich nicht irgendwelche Stoßgebete zwischendurch. Seit vielen Jahren beschließe ich den Tag mit einem Vaterunser. Es lässt mich zur Ruhe kommen und ruft mir das Wesentliche in Erinnerung, um das es geht. In der Beziehung zu Gott und der Welt, in der ich lebe, und in den Beziehungen zu meinen Mitgeschöpfen.

Häufig komme ich dabei ins Nachdenken. Wenn ich merke, dass ich beginne, abzuschweifen, fange ich noch einmal von vorne an und versenke mich ganz in das Gebet. Das hat etwas Meditatives. Und so alt sie auch sein mögen, für mich bringen es diese Worte einfach auf den Punkt.

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